energate: Worum geht es bei dem Projekt mit Thyssenkrupp und welche Rolle spielt Air Liquide dabei?

Gilles Le Van: Thyssenkrupp verfolgt langfristig das Ziel, die CO2-Emissionen der Stahlerzeugung bis 2050 um gut 80 Prozent zu reduzieren. Wie Thyssenkrupp sind auch wir davon überzeugt, dass Wasserstoff ein Schlüssel zum Erfolg für eine klimafreundliche Stahlproduktion sein kann. Ein erstes Projekt wird jetzt Wasserstoff nutzen, um Kohle als Reduktionsmittel im Hochofen anteilig zu ersetzen - zuerst an einer von 28 Blasformen, später an jeder Blasform. So ließen sich bis zu 20 Prozent der CO2-Emissionen des Hochofens 9 einsparen. Wir als Air Liquide unterstützen den größten deutschen Stahlhersteller mit der Lieferung von Wasserstoff. Im Testbetrieb dieses Jahr werden wir Wasserstoff per LKW bereitstellen, in Phase 2 würden wir den Hochofen an unsere Wasserstoff-Fernleitung anschließen - und so eine zuverlässige Versorgung mit großen Mengen Wasserstoff sicherstellen.

energate: Die Technik soll künftig bei weiteren Hochöfen zum Einsatz kommen. Wie viel Wasserstoff ist dafür nötig und woher kommt er?

Le Van: In Phase 1 kommen die LKW aus unserem Füllwerk in Marl, dem größten Wasserstoff-Füllwerk in Europa. Hierbei wollen wir uns die Wirkungsweise von Wasserstoff bei hohen Temperaturen im Hochofen anschauen und das technisch Machbare ausloten. Für die Phase 2 ist - wie gesagt - ein Anschluss ans Fernleitungsnetz geplant. Hier sprechen wir von mehr als 100.000 Kubikmeter Wasserstoff pro Tag. Unser Netzwerk ist wie dafür gemacht. Es ist exklusiv für industrielle Großkunden und speist sich aus verschiedenen Quellen - von der Dampfreformierung bis zur Chlor-Alkali-Elektrolyse, von eigenen Quellen bis zu Verbund-Zukäufen in Dormagen, Leverkusen, Uerdingen, Oberhausen und Marl.
 
energate: Gibt es weitere Einsatzgebiete für Wasserstoff in der Industrie?

Le Van: In Duisburg haben wir jetzt ein bedeutendes Kapitel der industriellen Entwicklung aufgeschlagen. Denn was in chemischen Prozessen und Verfahren häufig ein Nebenprodukt ist, kann hier in der Stahlerzeugung sehr sinnvoll und gewinnbringend zum Einsatz kommen. Als weltweit tätiges Gaseunternehmen verfügen wir über Expertise in der gesamten Wasserstoff-Wertschöpfungskette - von der Produktion über die Distribution und Speicherung bis hin zu Endanwendungen. Künftig wird sich auf der Produktionsseite viel um die CO2-freie Wasserstofferzeugung drehen - in Kanada bauen wir derzeit die mit 20 MW weltweit größte PEM-Wasserelektrolyse-Anlage.

Für die Energiewende werden Speicher von zentraler Bedeutung sein - und Wasserstoff lässt sich hervorragend in Tanks und Kavernen speichern. Wir betreiben einen unterirdischen Wasserstoffspeicher in den USA und eine Helium-Kaverne in Gronau-Epe. Die Kavernenspeicherung von Wasserstoff könnte auch für Deutschland interessant werden, wo es ideale geologische Randbedingungen gibt. Bei den Anwendungsfeldern sind kaum Grenzen gesetzt - beispielsweise in den Bereichen Industrie, Energie und Mobilität. Die Wertschöpfungsketten sollte man hier aber nicht mehr starr und linear betrachten. Wasserstoff ist universal einsetzbar und ein idealer Hebel für die Sektorenkopplung.

Gerne würden wir es auch sehen, wenn die Wasserstoff-Mobilität im ÖPNV und im Individual- und Flottenverkehr etwas mehr Aufmerksamkeit bekäme. Denn die Vorteile liegen nicht nur in der lokalen Emissionsfreiheit, sondern auch im Bereich User Experience: kurze Tankzeiten und lange Reichweiten.
 
energate: Pilotanlagen gibt es nun schon ein paar, eine größere Umsetzung scheitert bislang an den zu hohen Kosten. Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern, um bessere Voraussetzungen für den Einsatz von Wasserstoff zu schaffen?

Le Van: Wasserstoff ist Energieträger und Feedstock zugleich - und das macht die regulatorische Betrachtung nicht ganz einfach. Wenn Strom oder Erdgas zur Wasserstoffproduktion eingesetzt werden, so bestimmen deren Kosten und Nebenkosten natürlich die Wirtschaftlichkeit des Wasserstoffeinsatzes. Im Augenblick sind konventionelle Produktionsmethoden wirtschaftlich unschlagbar, aber das muss ja nicht ewig so bleiben.
 
Die Fragen stellte Mareike Teuffer, energate-Redaktion Essen. Veröffentlicht wurde dieses Interview hier